(K)ein Leitbild

Wir haben uns auch für die Zeit, wo unser Webdesign-Studio bestand, kein förmliches Leitbild gegeben. Den Grund dafür zeigt – ein wenig augenzwinkend – die folgende Fabel. Gute Unterhaltung beim Lesen! (Bei Gefallen kann sie als *.pdf-Datei heruntergeladen werden.)

Michael Iseler:

Ein Leitbild steht im Walde

Kapitel 1

Es war irgendwann an einem neblig-trüben Oktobertag Anfang des 21. Jahrhunderts, als sich die Tiere des Waldes wie jedes Jahr trafen, um gemeinsam den Buß- und Bettag zu begehen. Dieses Ritual hatten sie vor vielen Jahren von den Menschen übernommen, den Termin allerdings um einen Monat vorverlegt, damit auch diejenigen daran teilnehmen konnten, welche im November bereits Winterschlaf hielten.
Aber in diesem Jahr war alles ein bißchen anders als sonst. Es war nicht nur ein unruhiges Gemurmel zu hören, ganz im Gegensatz zur sonst üblichen bußfertigen Stille, gelegentlich vernahm man gar ein geflüstertes, gleichwohl lautes und hitziges Debattieren, ja, ein seltsamer und durchaus unangenehmer Geruch belästigte überdies die feinen Nasen der Anwesenden. Und wie um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, lagen der Bär und der Hase mitten auf der Lichtung und schnarchten ungeniert, anstatt dem Anlaß entsprechend pflichtschuldigst innere Zerknirschung zur Schau zu tragen.
Schließlich ergriff - wie auch schon seit Jahren nicht anders gewohnt - der Hirsch das Wort, der zur Feier des Tages einen Talar um seinen Körper geworfen und sein Geweih mit einem Beffchen verziert hatte. "Es ist", hub er an, "die Stunde gekommen, uns zu besinnen, unser Gewissen zu erforschen und den Frieden mit uns selber, der Natur und unseren Mittieren, wo nötig, wieder herzustellen. Lasset uns also innehalten und unser Verhalten in diesem Jahr selbstkritisch überdenken."
Aber diesmal wollten die Worte des von allen respektierten kapitalen Zwölfenders kein rechtes Gehör finden. Im Gegenteil, die Unruhe wurde nur noch größer, bis schließlich der Bär erwachte, sich mit unsicheren Beinen erhob und lallte: "Wassn los?" Auch der Hase öffnete die Augen, zwinkerte ein paar Mal schlaftrunken, versuchte vergeblich auf unsicheren Pfoten ein paar Haken zu schlagen und begann unvermittelt hemmungslos zu kichern. Die anderen schlossen sich an und kicherten ebenfalls, wenn auch unterdrückt, nur wenige schwiegen mißbilligend. Nur mit äußerster Mühe gelang es dem Specht, durch etliche kräftige Klopftöne für Ruhe zu sorgen.
Auch der Hirsch röhrte in seinem strengsten Tonfall, um sich wieder Gehör zu verschaffen. "Ich kann", fuhr er dann fort, "und will über diesen ungeheuerlichen Vorfall nicht schweigend hinweggehen, gerade am heutigen Tage, welcher der Buße, Besinnung und Besserung gewidmet sein soll. Denn gar zu viele von euch sind, wie ich sehe, gegen die Versuchungen des Teufels Alkohol keineswegs gefeit. Was also schlagt ihr vor?"
Schon beim Röhren des Hirsches waren etliche Tiere zusammengefahren und hielten sich nun mit schmerzverzerrten Gesichtern die Vorderpfoten an die Köpfe. Es war ein derart groteskes Bild des Jammers, daß auch die anderen offensichtliche Mühe hatten, die liturgische Contenance zu wahren. Nur auf eines wartete der Hirsch vergeblich: auf Vorschläge zur Abhilfe.
"Da ihr", ließ er sich vernehmen, "also offenbar alle nicht wißt, wie wir aus unserem verlotterten und trunksüchtigen Gemeinwesen wieder eine Gott wohlgefällige Familie rechtschaffener und enthaltsamer Tiere machen sollen, will ich meinerseits einen Vorschlag unterbreiten. Ich persönlich werde mich mit einigen anderen von euch, die wie ich selbst keinen Winterschlaf halten, in den kommenden Monaten jeden Mittwochnachmittag treffen. Bei diesen Versammlungen wollen wir verbindliche Leitbilder für alle Tiere des Waldes formulieren und sie am 21. März, dem Frühlingsanfang, der Vollversammlung zur Abstimmung stellen. Wer dafür ist, hebe die Pfote!"
Wie nicht anders zu erwarten, stimmten nur die wenigen noch nüchternen Tiere dem Vorschlag des Hirsches zu. Trotzdem reichte das als Mehrheit völlig aus, denn bevor die anderen begriffen hatten, über was sie wie abstimmen sollten, hatte der pfiffige Fuchs bereits offiziell festgestellt, daß es keine Gegenstimmen gäbe.

Kapitel 2

Was im Verlauf des folgenden Winters im einzelnen geschah, ist nachträglich kaum festzustellen. Es hielt sich jedenfalls lange Zeit das Gerücht, die Arbeitsgruppe unter Leitung des Hirsches hätte in der kalten Neujahrsnacht einen noch glimmenden alten Kohlenmeiler zweckentfremdet, um sich ein wärmendes Kirschwasser zu brennen. Wie dem auch sei - wahr ist jedenfalls, daß die besagte Arbeitsgruppe mit allerlei aufwendigen Verfahren, zum Beispiel einer Birkenrindenabfrage, schließlich zu einem Ergebnis gelangte, welches sie verabredungsgemäß am Frühlingsanfang der Waldtiervollversammlung zur Abstimmung stellte. Jegliche Zügellosigkeit im Reden und Verhalten sollte künftig unterbleiben, ebenso jede Form der Belästigung von Mittieren. Insbesondere alle Formen von Drogenmißbrauch sollten geächtet werden. Hiermit wollte man selbstverständlich die Trunksucht umschreiben; die Arbeitsgruppe war jedoch der Überzeugung gewesen, daß der Gebrauch solch profaner Worte wie "saufen", "Schnaps", "Fahne", "betrunken" oder "verkatert" der hehren Zielsetzung von Leitbildern nicht angemessen sei.
Zur Überraschung der Arbeitsgruppe fand sich eine überwältigende Mehrheit bereit, diese Leitbilder mitzutragen - der lange Winterschlaf hatte auch auf die hartnäckigsten Alkoholsünder eine ernüchternde Wirkung gehabt, und nur wenige Unverbesserliche, namentlich der Bär und der Hase, verweigerten dem großen Werk ihre Zustimmung. Der Bär hörte nämlich schon wieder die ersten Bienen geschäftig summen, was in ihm eine unbändige Vorfreude auf selbstgebrauten Honigwein auslöste, und der Hase, von vielen wegen seines unverklemmt sinnenfrohen Lebenswandels insgeheim beneidet, wollte sich da aus Prinzip nicht dreinreden lassen. Aber diese wenigen Ausnahmen konnten an den eindeutigen Mehrheitsverhältnissen auch nichts mehr ändern. Der Fuchs wurde schließlich beauftragt, die Umsetzung der Leitbilder zu überwachen.

Kapitel 3

Schon am nächsten Morgen unternahm der Fuchs einen ersten Überwachungsstreifzug durch den Wald. Befriedigt stellte er fest, daß die Leitbilder tatsächlich etwas geändert zu haben schienen. Alle Tiere schauten fröhlich und munter aus klaren und wachen Augen in die Welt, selbst der Iltis, in früheren Tagen für seine Alkoholfahne berüchtigt, duftete statt dessen nach Jasmin, Thymian, Waldmeister und anderen Kräutern, die er bereits in der Morgendämmerung geerntet hatte. Der Fuchs wollte sich bereits selbstzufrieden in seinen Bau zurückziehen, da hörte er aus einem hohlen Baum ein verdächtiges Schnarchen und ging pflichtbewußt nachschauen. Tatsächlich: In der Höhlung lag der Bär und schlief offenbar ganz ungeniert einen gehörigen Rausch aus.
Mit Schrecken wurde dem Fuchs klar, daß die Tiere des Waldes bei ihren Beschlüssen zur Umsetzung der Leitbilder eine schreckliche Unterlassungssünde begangen hatten. Niemand hatte es für nötig befunden, ihm für Konfliktfälle zusätzliche Befugnisse für Ordnungs- und Erziehungsmaßnahmen zu erteilen. Ganz im Gegenteil: Man hatte sich darauf geeinigt, daß jene Umsetzung zwar überwacht, aber nicht erzwungen werden sollte, daß die Leitbilder vielmehr gerade dann besonderen Wert gewännen, wenn sie von allen Tieren auf der Grundlage absoluter Freiwilligkeit nicht nur beschlossen, sondern auch eingehalten würden. Aber nun sah er sich mutterseelenallein ausgerechnet diesem Kraftpaket namens Bär gegenüber, und daß man keine schlafenden Bären wecken soll, schon gar nicht, wenn sie noch etliche Promille Restalkohol mit sich herumschleppten, war im Walde eine seit undenklichen Zeiten erprobte Erfahrungstatsache.
Der Fuchs handelte, wie es sich für einen Amtsträger gehörte: Flugs suchte er den Hirsch auf und trug diesem das Problem vor. Der Hirsch aber war insgeheim doppelt froh, die Sache beizeiten delegiert zu haben, und dachte gar nicht daran, dem Fuchs konkret zu helfen oder gar eine außerordentliche Waldtiervollversammlung einzuberufen, auf der man angemessene Sondervollmachten für den Fuchs hätte festschreiben können. Statt dessen erging er sich in Gemeinplätzen, appellierte an die sprichwörtliche Intelligenz und Pfiffigkeit des Fuchses und fügte hinzu, wenn der Fuchs bei der Übernahme der neuen Aufgabe seine eigene Belastbarkeit überschätzt habe, so müsse er die Folgen eben selber verantworten.
Das half dem Fuchs natürlich nicht weiter. Mit Empörung und Zorn stellte er fest, daß die anderen Tiere nur einen besonders Dummen gesucht und dann auch noch ausgerechnet ihn mit dem Argument übertölpelt hatten, er sei doch besonders intelligent. Wie sollte er aus diesem Dilemma heil herauskommen? Nur widerwillig machte er sich am nächsten Tag wieder auf seinen Rundgang, und das Unvermeidliche geschah schon nach kurzer Zeit: Das Schnarchen des Bären, der seinen Rausch diesmal an einem Bach ausschlief, war auch heute weithin zu hören. Der Fuchs hütete sich ebenso wie tags zuvor, sich einer unnötigen Gefahr auszusetzen, indem er den Bär weckte und womöglich gar zur Rede stellte. Stattdessen schlich er an ihm vorbei, nicht ohne jedoch innerlich vor Wut über seine eigene Hilflosigkeit zu kochen.
Langsam beruhigte sich aber die aufgewühlte Seele des frischgebackenen Sittenwächters; er schlich weiter und kontrollierte einen Abschnitt, in welchem reichlich Unterholz wuchs. Nach wenigen Minuten wurde er abermals fündig. Umgeben von weichen, hohen Gräsern lag der Hase und schnarchte ebenso genüßlich wie der Bär, wenn auch naturgemäß erheblich leiser. Sofort spürte der Fuchs seinen eben überwundenen Zorn wieder hochkochen, und mit respektheischendem Bellen stürzte er sich auf den völlig überraschten Schläfer.
"Was fällt", raunzte er schließlich, "dir eigentlich ein? Die Tiere des Waldes haben erst vorgestern auf ihrer Vollversammlung beschlossen, den Konsum des Alkohols einzustellen und erst recht seinen Mißbrauch zu ächten. Und in welchem Zustand finde ich dich hier?"
Der Hase war vollkommen schlaftrunken und hatte außerdem noch etliche Alkoholreste vom nächtlichen Gelage mit dem Bär im Körper. Kein Wunder also, daß er außer einem undefinierbaren Grummeln und Stottern keine Antwort zustande brachte. Sofort bekam der Fuchs wieder Oberwasser und vergaß die demütigende Begegnung mit dem Bär.
"Du wirst", versetzte er, "dich sofort an den Bach begeben und dort kalt baden. Und in Zukunft will ich dich in solch einem Zustand nicht mehr sehen!" Was blieb dem Hasen übrig? Verdrießlich begab er sich an den Bach und begann, vorsichtig sein Fell zu benetzen. Da näherten sich schwere Tritte, und sein Zechgenosse vom Vorabend, der Bär, ließ sich neben ihm nieder.
"Was machst", versetzte er, "du denn da? Bist du auch unter die Enthaltsamkeitsapostel gegangen?" Der Hase berichtete von seiner Begegnung mit dem Fuchs, und der erfahrene Bär riet ihm: "Dann krieche halt nächstes Mal tiefer ins Unterholz, dann findet er dich auch nicht so schnell!"

Kapitel 4

Aber der Fuchs war durch sein erstes Erfolgserlebnis bestens motiviert. Mehr noch: Es schien sich ihm ein Weg zu eröffnen, sich um die Auseinandersetzung mit dem Bär zu drücken und trotzdem die Illusion sinnvoller Tätigkeit am Leben zu erhalten. Also suchte er am nächsten Tag auf kürzestem Wege das Unterholz auf und wurde schon nach kurzer Zeit fündig. Wieder war es der Hase, der gar nicht daran gedacht hatte, den Leitbildern gemäß Enthaltsamkeit zu üben, sondern sich nur, wie der Bär ihm geraten hatte, ein paar Schritte tiefer ins Gebüsch zurückgezogen hatte, um seinen Rausch auszuschlafen. Die feine Nase des Fuchses hatte er freilich vollkommen unterschätzt.
Der Fuchs war wie berauscht von seinem eigenen Zorn. "Was muß", schimpfte er, "ich da wieder feststellen? Du scheinst die demokratischen Beschlüsse der Waldtiervollversammlung nach wie vor nicht ernst zu nehmen. Sollte sich das nicht ändern, werde ich zu ein paar geharnischten Maßnahmen greifen müssen!"
Der Hase freilich fühlte sich keineswegs ernstlich gefährdet, und so setzte sich das Spiel einige Wochen lang fort. Der Fuchs ertappte den Hasen mehr oder weniger regelmäßig, gefiel sich jedesmal darin, durch publikumswirksame Drohgebärden seine eingebildete Wichtigkeit zu inszenieren, ohne jedoch jemals seine Drohungen in die Tat umsetzen zu müssen, und der Hase hatte sich mit diesem Ritual ebenfalls abgefunden. Es wäre vermutlich noch lange so weiter gegangen, wenn nicht eines Tages der Hirsch den Fuchs beiseite genommen hätte. "Du bist," begann er, "wie ich höre, bei der Wahrnehmung deines Erziehungsauftrags auf Schwierigkeiten gestoßen. Ich möchte dich dringend auffordern, gegen die bekannten Unbotmäßigkeiten des Hasen konsequenter vorzugehen, da ich mich sonst gezwungen sehe, nun meinerseits deine Zuverlässigkeit genauer zu überdenken und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen."
So kam es, daß der Fuchs am nächsten Tag bei der üblichen Begegnung mit dem Hasen einen völlig ungewohnten Ton anschlug. "Jetzt reicht", schimpfte er, "es mir aber endgültig! Wenn ich dich noch einmal betrunken erwische, verpasse ich dir einen körperlichen Verweis!"
Der Hase erschrak, denn aus dem beklagenswerten Schicksal mancher Artgenossen wußte er, was sich der Fuchs unter einem körperlichen Verweis vorstellte. Immerhin hatte der Fuchs eine Familie zu ernähren! Was war zu tun? Aber der alte erfahrene Bär wußte auch diesmal Rat.

Kapitel 5

Als der Fuchs am nächsten Tag das Unterholz peinlich genau Zoll für Zoll durchkämmte, konnte er sich nach einiger Zeit eines wachsenden Triumphgefühls nicht erwehren. Tatsächlich: Der Hase war nirgendwo zu finden. Sollte ihm das energische Auftreten von gestern wirklich mehr Respekt abgenötigt haben? Der Fuchs blieb mißtrauisch und suchte intensiv weiter, die Nase dicht am Boden. So merkte er gar nicht, daß er den Wald verließ und über einen sanften Abhang hinab an einen See gelangte, an dem er noch nie gewesen war.
Fasziniert von dem erhabenen Anblick der weiten Wasserfläche blieb der Fuchs stehen. Er genoß den Ausblick auf die Berge am gegenüberliegenden Ufer und die in der Ferne vorüberschwimmenden Schiffe. Fast hätte er dabei das Merkwürdigste übersehen: Ein kleines Stück Schilfrohr, das offenbar nicht an einem Platz festgewachsen war, sondern sich im Zickzack an der Wasseroberfläche hin- und herbewegte.
Der Fuchs wäre kein würdiger Vertreter seiner Art gewesen, wenn ihn nicht die Neugier gepackt hätte. Flugs stürzte er sich ins Wasser, watete die paar Meter bis zu dem Schilfrohr, packte es mit den Zähnen und schleppte es an Land. Es war wirklich ein Schleppen, der Fuchs, der wie gesagt noch nie an einem See gewesen war, hatte gar nicht geahnt, wie schwer so ein kleines Stück Rohr sein konnte. An Land freilich sah er nur zu bald des Rätsels Lösung: Am anderen Ende des Rohres hatte sich der Hase festgebissen, um auf diese Weise unter Wasser Atem holen zu können. Und natürlich war er wieder betrunken, trotz des kalten Bades. Der Fuchs war außer sich. "Jetzt mache", drohte er, "ich aber endgültig ernst!" Gesagt, getan: Er öffnete das Maul und machte Anstalten, seine Zähne in das Fell des Hasen zu schlagen.
Der Hase hätte jetzt eigentlich begreifen müssen, daß sein wohl letztes Stündlein geschlagen hatte. War es die Verzweiflung, der alkoholbedingt reduzierte Durchblick oder der schiere Größenwahn, der ihn nun packte? Er blickte dem Fuchs mürrisch ins Gesicht und lallte: "Wassi Tiere ds Walles beschschschlissen, iss uns Fischen schsch....nurzegal!"
Der Fuchs vergaß vor Verblüffung zuzubeißen. Daran hatte keiner gedacht. Er fühlte sich auch nicht befugt, zu entscheiden, ob das Argument des Hasen waldrechtlich relevant sei. Er kratzte sich mit der Pfote am Kopf, was der Hase natürlich sofort zur Flucht nutzte, begab sich schnurstracks zum Hirsch und berichtete diesem von der unverhofft komplizierten Rechtslage.

Kapitel 6

Der Hirsch berief nun wirklich eine außerordentliche Waldtiervollversammlung ein. In stundenlangen erbitterten Debatten zur Sache, zur Tagesordnung und zur Geschäftsordnung mit Stellen und Zurückziehen Dutzender von Anträgen wurde das Für und Wider exakter Durchführungsbestimmungen für die Leitbilder erörtert. Mit flammenden Reden wurde von den einen eine konsequent durchgesetzte umfassende Waldordnung gefordert, von den anderen der unschätzbare Wert der Freiwilligkeit in Fragen der Leitbilder beschworen. Zum Eklat kam es, als der Bär ein riesiges Faß Met anschleppte. Ein Teil der Tiere verließ unter Protest die Lichtung, während die anderen die Gelegenheit zu einem opulenten Versöhnungsgelage weidlich nutzten.
So blieben die Tiere des Waldes bis auf den heutigen Tag zwar nicht ohne Leitbild, aber ohne Wege zu seiner Umsetzung. Und irgendwann war aller Streit und alle juristische Spitzfindigkeit vergessen, und die Tiere lebten wieder so glücklich und spontan wie zuvor, ohne daß je wieder ein bigotter Glaubenseiferer es gewagt hätte, ihnen diese Lebenslust madig machen zu wollen.

© – m.i. – 2005


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